In letzter Zeit fragst du mich ziemlich oft, wo eigentlich mein Problem liegt. Nun, ich glaube, woran die Seele vieler von uns krankt, ist der zwanghafte Wunsch nach Kontrolle, die verzweifelte Sucht danach, paradoxerweise einhergehend mit einem anfangs beinahe unmerklich fortschreitenden, später jedoch umso vollständiger erlebten Verlust derselben. Später, sobald sie uns hat, uns formt, uns aushöhlt. Und wir stocken, sehnen, blockieren, essen, hungern, trinken, spielen, schinden, heulen, grübeln, verzweifeln oder verzehren uns um den Verstand, nur um jenes zu spüren, von dem wir uns Schritt für Schritt, Tag für Tag weiter weg bewegen.
Wir lernen zwar vieles, aber eigentlich doch immer und immer wieder das Falsche. Das Altbekannte, das vermeintlich Sichere weiter zu kultivieren, zu hegen und zu pflegen, während es uns hinterrücks das Bein stellt, uns hilflos zappeln lässt in einem Netz aus Ausflüchten, Lügen, Kummer, innerer Leere und einem übelriechenden Haufen aus kreuzfalschen Erwartungen. Ich habe es satt. Es. Mich. Dich. Uns. Habe die Zwänge satt, die Ängste und Sorgen, die schlaflosen Nächte und bekümmerten Morgen.
Wo zum Teufel hat es angefangen schief zu laufen und wo ist der verdammte Bus, der uns zurück zur letzten entscheidenden Haltestelle bringt, damit wir nochmals von vorne beginnen können, hübsche Melodien summend und voller Zuversicht? Manchmal habe ich das Gefühl, als passe kein noch so kleines bisschen Traurigkeit mehr in mein Herz, bevor es mit einem stummen, inwärts gerichteten Knall implodieren und wie ein luftleerer Ballon hilflos in sich zusammenfallen muss.
Kennst du das, wenn du dir nichts sehnlicher wünschst, als dass die stupide Geschwindigkeit, die dein Leben von a nach b und von b nach xyz vorpreschen lässt, sich bloss ein klein wenig zurücknimmt, bloss ein klein wenig abnimmt? Von »zur Ruhe kommen« spricht hier niemand, nur ein paar Kmh weniger, acht oder neun vielleicht. Mehr verlangt man ja nicht, mehr braucht es doch auch gar nicht. Zack, macht es aller Hoffnung zum Trotz und du bist Mitte dreissig und kein bisschen weniger neurotisch und von Traurigkeit erfüllt. Im Grunde fühlt es sich exakt gleich an, wie damals im Alter von sechzehn. Wenn du ehrlich bist, weisst du nicht recht, ob das zum Lachen oder eher zum Weinen ist. Weinen kannst du sogar im Schlaf, versuch es zur Abwechslung doch mal mit Lachen. Ha. Ha. Bla.
Und doch wäre Lachen immer noch besser als dieses Aufblitzen, wenn dir sekundenschnell zwischen zwei Wimpernschlägen aufgeht, dass du jegliches Maß verloren hast, dich allzu oft wie eine Irre im Körper einer Durchschnittsperson benimmst. Zum Glück ist die Zeitdauer zwischen zwei Wimpernschlägen so kurz. Weggeblinzelt, weitergewunken, abgehakt. So ist das nun mal mit dem Erkennen. Zu. Scheiss. Unbequem. Bloss, wenn du dann eines Tages das Gefühl für die erste Person Singular ganz verloren hast, wenn es nichts mehr gibt, das dich im Hier und Jetzt hält, was nützt sie dir dann noch, deine Bequemlichkeit, die schon immer an allen Ecken und Enden gedrückt und geziept, gejuckt und eigentlich gar nie gepasst hat? Wen weisst du dann noch an deiner Seite, der dich zu erreichen vermag, während du es selbst längst nicht mehr tust?
Was bedeutet der Faktor Zeit in diesem kurzen Taumel von Wimpernschlag, der sich Leben nennt? Er bedeutet, ganz einfach da zu sein, in all der Endlichkeit, die uns bleibt. Auch wenn eben jene Endlichkeit uns so grosse Angst macht, dass wir meinen, unbedingt die Kontrolle (wieder-)erlangen zu müssen. Anmassend alleine, dass wir glauben, es zu können. Er bedeutet es auch, Entscheidungen zu treffen, Richtungen und Wege einzuschlagen, gestern, heute, morgen, nächstes Jahr. Er bedeutet Entwicklung ebenso wie Rückschritt – Tempo, Stille, Hoffnung, Trauer, Erkennen, Vergehen, Erinnern, Vergessen, Unglück, Zufriedenheit und noch so vieles mehr.
Nur eines bedeutet und erlaubt er nicht: Stillstand.