Lange ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Noch länger das letzte Gespräch, das aus mehr als bloss Phrasen bestand, die an der Oberfläche vor sich hindümpelten, hohl wie abgestorbene Backenzähne. An das letzte Beisammensein ohne das beklemmende Gefühl des sich schon zu weit verloren Habens kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich glaubte, ich würde dich vermissen wie verrückt, unendlich schmerzlich. So wie früher, wie einst. Doch das tue ich nicht. Womöglich habe ich bereits zu viel nachgedacht über uns, mir den Kopf über dich und mich zerbrochen. Mein Herz war es zu diesem Zeitpunkt schon lange. Vielleicht verfügt jeder Mensch über ein bestimmtes Aus- und Hohlmass, welches er in anderen besetzen kann. Von manchen hast du nach einer Weile bereits genug, während bei anderen irgendwann das leise Gefühl in dir hochsteigt, das Fass könnte irgendwo einen versteckten Riss haben, sodass es gar nie voll werden, geschweige denn überlaufen kann. In den meisten Fällen irrst du dich.
In unserem Fall machte »1 + 1« schon immer weniger als zwei. Wir sind das falsche Resultat einer viel zu oft verpatzten Rechnung, einer Gleichung, in der x und y eher kläglich zugrunde gehen, als sich einem gemeinsamen Ganzen zu beugen. Ich hasse Mathe. Und dennoch, hätte ich bloss besser aufgepasst damals im Unterricht statt von dir und mir zu träumen, wie man vom weiten Meer, von durchtanzten Nächten und hoffnungsvolleren Tagen träumt.
Es ist Juni und die Tage sind länger – länger hell, länger wach, länger ohne dich. Ich stelle fest, wie ich immer seltener an dich denke.
Kennst du das Gefühl, wenn dir ein sprichwörtlicher Stein vom Herzen fällt, du dich um etliche Kilos leichter, ja geradezu erlöst fühlst und zur selben Zeit eine weder benenn- noch beschreibbare Trauer beim Anblick des vor dir liegenden Steins empfindest? »Problemlösungsmelancholie« nenne ich das. Denn es ist doch so, alles hinterlässt eine Lücke, sobald es geht. Egal ob es gut war oder das Gegenteil davon. Hin und wieder entscheidet sich sowieso erst sehr viel später, ob etwas gut oder schlecht, falsch oder richtig war. Ganz selten entscheidet es sich nie. Und »ganz selten« passiert mitunter öfter als man meint.
Bei uns ist das anders. Ich weiss, dass du und ich einander nicht »richtig« sind. Nicht einmal aufrichtig waren wir einander gegenüber je. Heute lächle ich, wenn ich daran denke, wie lange, wie stoisch und verirrt wir einander aneinander vorbeigeliebt haben.
Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich mein Herz darauf verwettet, dass sich die Lücke, die du darin hinterlassen hast, nie, nie, nie schliessen wird. Wenn man ganz genau hinschaut, ist da noch ein kleiner Riss zu sehen. Hin und wieder fahre ich in Gedanken mit den Fingern darüber und merke, wie sich die noch spürbare linienhafte Erhebung im Gewebe nach und nach legt. Es ziept nicht einmal mehr, wenn ich mich ruckartig bewege, mich strecke oder nach etwas sehne.
Es ist noch immer Juni und die Tage sind länger – länger hell, länger wach, länger ohne dich. Dasselbe wünsche ich mir auch für dich: Längere Tage. Ohne mich.