Für die meisten von uns bedeutet Alleinsein die Abwesenheit von Familie, Partnern oder Freunden, unseres engsten sozialen Netzes. Je älter ich jedoch werde, desto mehr verdichtet sich der Gedanke, dass wir uns damit möglicherweise bloss etwas vormachen, uns in falscher Sicherheit wähnen. Unsere Familie kann noch so gross und herzlich sein, eine Beziehung noch so eng und der Freundeskreis beständig für einen da – sind wir letztendlich nicht irgendwie dennoch alleine?
Es ist doch so, niemand kennt uns, wie wir wirklich sind, mit ganz und gar all unseren Erinnerungen, Gedanken und Ansichten. Nie erzählen wir ausnahmslos alles, stets ändern wir bestimmte Stellen, schmücken sie aus und behalten das eine oder andere gleich ganz für uns. Was wir von uns zeigen ist weniger Realität als Selbstdarstellung – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn es schon für uns selbst zeitweise schwierig ist, unter all den tagtäglich gelebten Konventionen und über die Jahre verinnerlichten Stereotypen unser wahres »Ich« wieder zu erkennen, so muss es für unsere Mitmenschen doch erst recht unergründbar bleiben.
Man könnte dagegenhalten, dass man andere keineswegs durch und durch kennen muss, um sich in ihrer Anwesenheit aufgehoben und als Teil eines grösseren Ganzen zu fühlen. Dem stimme ich zu. Und dennoch wird uns die Unkenntnis ab einem gewissen Punkt stets von ihnen trennen – wie eine unsichtbare Mauer aus Informationslücken, offenen Fragen und dunstiger Ungewissheit.
Zu spüren kriegt man sie in ebenso unterschiedlichen wie alltäglichen Situationen. Beispielsweise, wenn man nach einem abendlichen Streit bockig neben dem Partner im Bett liegt und nicht einsieht, wieso er oder sie einen mal wieder nicht versteht. Oder in diesen wirklich seltsamen Momenten – an sommerlichen Grillpartys oder ähnlichen Anlässen – wenn man inmitten von Freunden und Bekannten an einem dieser ewig langen Festbänke sitzt und sich mit einem Mal völlig konsterniert fragt, was einen mit all diesen wunderlichen Menschen verbindet…
Solche Situationen sind es, die mir mein letztendliches Alleinsein jeweils so abrupt vor Augen führen, dass sich mein Herz für einen kurzen Moment schmerzlich zusammenkrampft. Was bleibt ist ein leises Gefühl der Melancholie, in das sich aber früher oder später die tröstende Gewissheit schleicht, dass wir unseren Weg zwar wohl alle alleine gehen, dabei aber glücklicherweise so viele sind, dass es unvermeidlich ist, dass sich hin und wieder Wege kreuzen. Sei es durch links und rechts Überholen, seitliches Streifen oder gar frontale Kollisionen. Und auch wenn wir die unzähligen Mauern zwischen uns so nicht zum Einstürzen bringen, löst sich oft doch gerade so viel Geröll heraus, dass es sich hie und da zumindest neugierig hindurchblinzeln und ein wenig miteinander plaudern lässt.