Vor zwei Minuten sass ich im Tram in Richtung Seefeld, liess meinen Blick aus dem Fenster und meine Gedanken von da nach dort schweifen. Vor zwei Minuten noch war ich halbwegs guter Dinge, dass Worte wie »Leichtigkeit« oder »Gelassenheit« an manchen Tagen auch für mich mit Bedeutung versehen sein könnten.
Ich erwarte auf dich zu treffen, als ich aussteige und in die atemlose Hektik der Stadt zur Feierabendzeit eintauche. Dennoch erwischt du mich jedes Mal aufs Neue auf dem falschen Fuss – jenem, der sich nun mal nicht damit abfinden will, dass du eine Protagonistenrolle auf der Hauptbühne meines Lebens spielst. Auch wenn du deine Rolle gut spielst, verdammt überzeugend allemal. Da warst du schon immer. In welche Richtung auch immer ich mich drehe und sehne, du stehst neben mir. Du folgst mir ins Leben hinaus, kletterst mir in den Nacken und lässt mich wissen, was alles »falsch« ist, was schiefgehen könnte, was womöglich passieren wird. In manchen Situationen leise murmelnd bis eindringlich flüsternd, in wiederum anderen laut zeternd und schrill tönend.
Kaum setze ich einen Fuß auf den Gehsteig, stehst du auf meinen Schuhen und greifst nach meinen Hosenbeinen. Du schaust zu mir hoch, den Kopf schief gelegt, als würdest du auf irgendetwas warten. Ich versuche zaghaft, mir einen Weg zwischen all den herumstehenden oder vorübereilenden Menschen hindurch zu bahnen. Mein Blick wandert hektisch hin und her und beginnt sich zu trüben. Ich fühle übelkeitserregende Hitzewellen in meiner Brust aufsteigen, zur selben Zeit spüre ich kalten Schweiss, während ich beide Arme fest an meinen Körper presse. So als könnte ich etwas verlieren, wenn ich nicht aufpasse – wahlweise meine Arme oder den Verstand. Du krallst dich an meiner Jacke fest und ziehst dich langsam hoch. Ich kann dich nicht abschütteln, ohne die Arme von meinem Körper zu lösen. Und ich befürchte, wenn ich es täte, fiele ich innert Sekunden auseinander.
Nachdem ich beinahe mit einer jungen Frau zusammenstoßen bin, die an mir vorbei und auf das bereits losfahrende Tram zu hastet, überspringt mein Herz gefühlte zwei Schläge und ich merke, wie du mir im Nacken sitzt. Einmal mehr. Es ziept und zerrt an meinen Haaren, ich schüttle kurz aber heftig den Kopf. Du lässt dich davon nicht beeindrucken und beginnst mir eindringlich ins Ohr zu flüstern. Ich schüttle den Kopf erneut und stolpere zur Seite. Aus dem Flüstern ist lautstarkes Gezeter geworden. Ich will weg von all den Menschen und dem unerträglichen Wirrwarr aus Reiz-Reaktionsabfolgen, das mich wünschen lässt, meinen Körper zu verlassen und nicht wiederzukehren. Ich will weg von hier und von dir. Jetzt sofort.
Auf der anderen Seite der Querstrasse entdecke ich eine Bushaltestelle. Die Arme noch immer fest an mich gepresst, versuche ich im Windschatten anderer Passanten über die Straße zu gelangen. Ich steuere dabei die Seitenwand des immer näherkommenden Bushaltestellenhäuschens an. Es fühlt sich an, als würde ich im Strom der Körper und Geräusche um mich herum zischend untergehen, mich sprudelnd auflösen wie eine Brausetablette in Leitungswasser. Die fortschreitende Dämmerung nimmt meine angstgetrübte Sicht an der Hand und macht es zunehmend schwerer, mich zu orientieren. Du weißt das und beginnst mich zu würgen, während deine schrille und noch immer viel zu laute Stimme in meinen Gedanken widerhallt.
Auf der gegenüberliegenden Strassenseite angekommen, lehne ich mich an die mit Plakaten und Zetteln zugeklebte Wand des Haltestellenhäuschens und sinke in die Knie. Eine tiefe Erschöpfung erfüllt mich. In solchen Momenten kann ich jeweils nicht sagen, was mehr wiegt: die Wut, die ich auf dich empfinde – und auf mich – oder das Gefühl, einmal mehr auf ganzer Linie versagt zu haben, das mir ach so vertraut ist. Ich versuche gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen und tief ein- und wieder auszuatmen, in der Hoffnung, dass sich die Menge an Sauerstoff und Kohlendioxid in meinem Gehirn langsam wieder ausgleicht. Einatmen – eins, zwei, drei, vier – ausatmen – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Ich bohre die Fingernägel so fest in meine Oberschenkel, dass es weh tut, um die Wirklichkeit oder vielmehr mich selbst in ihr zu spüren und horche vorsichtig in mich hinein. Da ist weder Keifen noch Flüstern. Ich entdecke dich schliesslich dicht neben mir auf dem von der frühsommerlichen Abendsonne aufgewärmten Asphalt kauernd, beide Arme um mein Hosenbein geschlungen, den Blick gesenkt. Du siehst mindestens ebenso erschöpft aus wie ich mich fühle.
Meine Arme lösen sich von meinem Körper, der sich anfühlt wie Kaugummi und ich lege dir, noch immer kniend an die Seitenwand des Bushaltestellenhäuschens gelehnt, behutsam eine Hand auf den Kopf. Dein Griff um mein Hosenbein verstärkt sich instinktiv und lockert sich daraufhin wieder. Da warst du schon immer. In welche Richtung auch immer ich mich drehe und sehne, du stehst neben mir. Aber so gerne ich dich an jedem einzelnen Tag mit harschen Worten und wütenden Gesten von der Hauptbühne meines Lebens schicken würde, so sicher bin ich mir je länger je mehr, dass auch du mit deiner Rolle alles andere als glücklich bist.
Ich rapple mich auf, strecke beide Beine durch, streiche mir durchs Haar und schüttle die vergangenen Minuten in Gedanken von meinen völlig verspannten Schultern. Ein Bus hält an der Haltestelle und ich beschliesse einzusteigen – egal wohin er fährt. Zwei Minuten später sitze ich in jenem Bus in Richtung irgendwo. Du sitzt neben mir und schaust mich fragend an. Als du deinen Kopf müde an meinen Arm legst, seufze ich, atme tief ein und wieder aus, lasse meinen Blick aus dem Fenster schweifen und meine Gedanken zögerlich hinterher.