Freitagabend – auf dem Heimweg von der Arbeit im Zug. Fünfundvierzig Minuten und acht Bahnhöfe lang die Wege und Leben unterschiedlichster Menschen kreuzen, sie ein- und aussteigen, sich hinsetzen und wieder aufstehen, sich dazwischen unterhalten, schlafen, schweigen, lesen, Musik hören, nachdenken, telefonieren, tippen, lächeln sehen. Ich sitze da, wie fast immer, schaue mich um und staune.
Die meisten dieser Menschen haben ein Zuhause, einen Job, eine Ausbildung oder eine sonstige Tätigkeit, der sie Tag für Tag nachgehen, sie haben Familie, Nachbarn und Freunde. Jetzt in diesem Augenblick haben sie etwas vor, wollen irgendwo hin, sind zufrieden oder traurig, verliebt oder müde, haben Angst oder auch gute Nachrichten für irgendwen, sind einsam oder aufgekratzt, planen das Abendessen, einen Urlaub oder vielleicht jemanden zu verlassen.
Ich frage mich, wo und wie der ältere Herr, der im hinteren Teil des Waggons mit konzentriertem Blick Zeitung liest, wohnt, ob er verheiratet ist und welche Farbe seine Couch hat, ob er eher ein Katzen- oder Hundemensch ist. Ich frage mich, wo die beiden jungen Männer, die neben mir sitzen und sich darüber unterhalten, was heute noch so geht, arbeiten, woher sie sich kennen und was sie mir antworten würden, fragte ich sie nach dem Bedeutsamsten in ihrem Leben. Ich frage mich, woran die Frau in meinem Alter, die direkt an den Zugtüren steht, gerade denkt, während sie in den Zugtürscheiben ihr Spiegelbild studiert (oder auch mühelos durch es hindurchblickt, ich meine, was weiss ich denn schon über sie). Ob sie glücklich ist, hier und jetzt, morgen oder überhaupt?
Ich frage mich, woher all diese Menschen kommen, mit denen ich zufällig ein Zugabteil teile, wo sie hinwollen und was meine eigene Rolle in dieser Szenerie, diesem Gedankenbild in Farbe, Zeit und Raum wohl ist. Woher komme ich und wohin will ich, bin ich glücklich und was ist das Bedeutsamste in meinem Leben?
Der Zug fährt in meinem Bahnhof ein. Ich steige aus, schüttle im Gehen die letzten Gedanken an jene Menschen ab, in deren Anwesenheit ich die vergangenen fünfundvierzig Minuten verbracht habe und laufe im kalten Dunkel des ersten Freitagabends des neuen Jahres nach Hause.