»Wenn wir nichts zu verlieren haben, wie du sagst, woran halten wir dann fest?«
Mein Blick ruht auf den Stirnfransen, die dein Gesicht rahmen, als wäre es ein Monet. »Promenade sur la falaise, Pourville«. Mindestens. Ich nehme wahr, wie sich dein Mund öffnet und Laute ausspuckt, Buchstaben, Worte, Sätze. Ich kann sehen, wie sie schwerelos durch die Luft wirbeln, das fragwürdige Stück Raum zwischen uns, das wir gerne mit einer fahrigen Handbewegung wegwischen würden.
Aus den Augen, aus dem Sinn. Während ich deine Worte ziellos umherschwirren sehe in diesem eigentlich kleinen Stück Raum zwischen uns, wird mein Herz schwer und schwerer. Es fühlt sich an wie Aufgeben. Wie wissen, nicht zu wissen wie und ob diesem Wissen die Augen niederschlagen zu müssen.
»Worauf warten wir eigentlich?«, höre ich mich fragen. Leise, ungeduldig, ein wenig misstönig. Als ich dein Monet-Gesicht vor mir verschwimmen sehe, wende ich meinen Blick ab. Jetzt bloss nicht weinen. Leute wie ich gehen viel zu verschwenderisch mit ihren Tränen um, so als hätte man sie auf Vorrat. Hat man aber nicht.
Ich fürchte mich jetzt schon vor dem Moment, da ich einst dastehen werde und nichts anderes als weinen will, aber keine einzelne Träne mehr übrig habe. Ausgetrocknet und dumm werde ich dastehen und nur noch mehr weinen wollen. Weil ich nicht einmal mehr weinen kann. Selbst schuld, du schäbige Tränenverschwenderin. Nein, jetzt also auf keinen Fall weinen. Ich konzentriere mich auf das beengende Gefühl in meiner Brust, das vom Luft anhalten herrührt und von soviel mehr – und verharre stumm. Als ich einige Sekunden später nach Luft schnappe, wage ich einen kurzen Blick auf dich. Das hätte ich lassen sollen. Du siehst irgendwie traurig aus. Und ratlos. Meine Stirn kräuselt sich leise, als mir der Gedanke durch den Kopf schießt, dass ich mich selbst pausenlos ratlos fühle, seit ich dich kenne. Wir sind ein Rätsel ohne Lösung für mich. Als hätten wir ganz zu Beginn bei drei senkrecht »Erle« statt »Eibe« hingeschrieben und als mache seither nichts mehr wirklich Sinn.
Als ich spüre, wie sich deine Hand auf meine legt, zwinge ich mich, dich anzusehen und damit auch ein bisschen mich selbst. Es ist ja nicht so, als hätten wir aufeinander gewartet. Vielmehr waren wir einfach da, mit einem Mal, nebeneinander. Und zwischen uns das kleine Stück Raum. Fast wie zwei Reisende auf einer Bank am Busbahnhof. Ich hab verdammt gerne mit dir auf den Bus gewartet, das kann ich dir sagen. Ich habe bloss nicht den Hauch einer Ahnung, ob wir aufstehen sollten, um uns zu verabschieden, weil deiner gleich einfährt oder vielleicht ja auch meiner. Oder ob wir Hand in Hand in einen Bus steigen sollen, der uns irgendwohin bringt, wo wir weitergehen. Oder sitzen. Sitzen wäre okay. Besser als Aufgeben. Besser als Weggehen. Stimmt doch, oder nicht?
Ich kann deine Hand noch immer auf meiner spüren und als sich unsere Blicke treffen, sehe ich meine eben erst gedachten Fragen auch aus deinen Augen flimmern. Sich mit einer Prise Hoffnung balgende Ratlosigkeit auf beiden Seiten und unser kleines Stück Raum dazwischen.
Bedächtig schaue ich an mir herunter und an dir wieder hinauf. Ich seufze schwer, als ich mein Herz mit einem Mal rasend schnell gegen die Rippen donnern fühle und löse seufzend meine Hand von deiner. Zögernd und mit zitternden Beinen stehe ich auf, drehe mich einmal im Kreis. Langsam, ganz langsam. Als ich wieder neben dir sitze und meine Schulter an deiner fühle, meinen Arm an deinem, meine Hüfte und meine Oberschenkel an deinen, atme ich aus. Ich kann deinen Herzschlag an meiner linken Seite spüren. Es scheint fast, als woge er in leichten Wellen an mir hoch und wieder hinunter.
Als ich schliesslich den Kopf an deinen lege und meinen eigenen Herzschlag neben deinem ausfindig zu machen versuche, spüre ich deine Hand an meinem Hals, wie sie den kleinsten noch bestehenden Raum zwischen uns mit einer sanften Berührung schliesst. Wortlos. Fraglos.
»Lass uns noch ein wenig hier sitzenbleiben. Auf irgendetwas warten geht immer. Zu zweit erst recht.«
»Ja. Sitzen wäre okay.«