Ich glaube, jedes Herz trägt Narben. Manche still und im Geheimen, sodass es niemand mitbekommt, während andere nach aussen gekehrt leiden (heisst es nicht, Wunden würden besser heilen, wenn »Luft dran käme«?). Bei den einen ist es eine grosse, wulstige Narbe, die sich quer über die rechte oder linke Herzhälfte zieht und auch noch nach Jahren von Zeit zu Zeit höllisch juckt – immer wenn es regnet zum Beispiel – und unangenehm spannt. Andere Herzen zeigen sich übersäht mit kleineren narbenartigen Erhebungen, unscheinbar auf den ersten Blick, aber so zahlreich, dass vom ursprünglichen Herzgewebe kaum noch etwas zu erkennen bleibt.
Natürlich sind daneben etliche weitere Zustände und Stadien zu finden. Ich wage zu behaupten, eine Herznarbenlandkarte ist etwas ähnlich persönliches und eindeutig zuordenbares wie ein Fingerabdruck oder dergleichen. Wir alle leben mit den kleineren und grösseren Narben, pflegen die einen, versuchen andere tunlichst zu ignorieren, fügen uns selbst in (un-)regelmässigen Abständen neue hinzu oder lassen das andere übernehmen.
Ich mag Narben. Mir gefällt, was sie ausdrücken, ohne etwas zu sagen. Dass da Schmerz war, Leid und offen gelegtes Selbst und man trotz allem noch immer da ist. Ich mag die Tatsache, dass oft nicht einfach wieder normale Haut aus einer Wunde wird, sondern etwas Neues, das stärker anmutet, wissender, schützender. Womöglich juckt, spannt und triezt es uns noch eine ganze Weile lang, aber es beweist zur selben Zeit, was wir alles fähig sind durchzustehen und zu meistern.
»Vom Leben und Lieben gezeichnet« – was sonst zeugte von unserem Da- und Hiersein, wenn nicht spür- und erinnerbare Male, Wegpunkte, Marker und Stationen auf unserer individuellen Lebenskarte?
Ich mag Menschen, die statt sich dafür zu schämen oder sie zu verstecken, immer mal wieder sanft mit den Fingerspitzen oder in Gedanken über ihre Narben fahren – ob auf der Haut oder tief im Herzgewebe – und dabei lächeln. Weil sie trotz allem noch da sind und lächeln können. Und weil das Leben trotz äusserer und innerer Vernarbungen in vielen Fällen weitergehen kann und auch wird.
Kommentare
Simi
Denn ganzen Tag schon hab ich diesen Text im Kopf. Bei mir heißt er allerdings Herznarbenkarte. Das war mein allererster Text den ich von dir gelesen habe und ich liebe ihn so sehr. Danach kamen noch soviel wundervolle die ich […] WeiterlesenDenn ganzen Tag schon hab ich diesen Text im Kopf. Bei mir heißt er allerdings Herznarbenkarte. Das war mein allererster Text den ich von dir gelesen habe und ich liebe ihn so sehr. Danach kamen noch soviel wundervolle die ich auch sehr liebe aber in dem Text steckt soviel und er war für mich der Startschuss zu einem ganz neuem Leben. So unglaublich kostbar was du da erschaffen hast. Von Herzen Danke dafür Liebe Grüße Simi Read Less
Emma denkt.
to Simi
Danke für diese Zeilen, liebe Simi. Sie bedeuten mir mehr als ich mit Worten sagen kann.