Es ist früh morgens. Ich sitze im stehenden Zug am Bahnhof, kurz bevor er losfährt und beobachte ein junges Paar, das eng umschlungen auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig steht. Er küsst sie immer wieder sanft auf die Stirn, worauf sie mit ihrem Kopf ein klein wenig zurückwippt und ihn lächelnd ansieht. Sie sieht so glücklich aus, dass ich es beinahe selbst fühlen kann. Über Bahngleise hinweg und durch Zugfenster hindurch.
Ob es »normal« ist, dass ich so vieles in mir und um mich herum so intensiv empfinde, dass mir an gewissen Tagen beinahe im Minutentakt Tränen in die Augen schiessen, frage ich mich ab und an. Ob es mir gefällt, als eine Art »Schwamm« durch die Welt zu laufen und alles aufzusaugen, was an Emotionen so rumirrt und schwirrt. Ob es nicht einfacher wäre, weniger anstrengend, weniger aufreibend, könnte ich mich besser abgrenzen gegen aussen, wären meine Zellwände dicker, oder zumindest nicht ganz so porös.
Es gibt auch andere Tage und Momente. Manchmal fühle ich mich unwahrscheinlich weit weg von allem, was wahr ist, was real ist, was da ist. Nicht selten schiebe ich es auf das unablässige Synapsengerangel in meinem Irgendwo-da-drin und den Taumel aus Reiz-Reaktions-Abfolgen, dem ich mich kaum je entziehen kann.
An solchen Tagen gehe ich für gewöhnlich dicht neben mir her und befinde mich dennoch weit daneben. Als wäre man in jeder Sequenz, die sich um einen herum abspielt, exakt anderthalb Sekunden zu spät. Dazwischen gibt es für mich wenig. Kaum etwas, um ehrlich zu sein. Ich bin und war nie ein »Dazwischen-Mensch«, die Balance zu halten fällt mir schwer. Ich bin ganz oder gar nicht, richtig oder falsch, schwarz oder weiss, ja oder nein.
Ich bin weder stolz darauf noch glaube ich an mehr – mehr Möglichkeiten, mehr Stellweichen, mehr wasauchimmer. Vielleicht sollte man ja auch einfach mal weniger glauben und ein bisschen mehr sein. Wie man nun einmal ist. Wie es nun einmal ist.
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, der Tag tut es ihm gleich und fängt zögernd an zu sein, was er ist. Als mein Blick auf das noch immer eng umschlungene Paar auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig fällt, dessen Glück im Zugfenster langsam, tatsächlich, wirklich an mir vorbeizieht, lächle ich tief in mich hinein und blicke hinaus in die immer zügiger an mir vorbeiziehende Welt.
Nein, nicht eine Sekunde lang möchte ich tauschen.